Erwachsene sollten Jugendliche besser wahrnehmen: Tilmann Weickmann über das Engagement der Berliner Jugend
Notiert von jor ~ 16. September 2020 ~
Zehn Jahre Berliner Engagementwoche: Die Landesfreiwilligenagentur Berlin hat Antreiber:innen und Beobachter:innen der Berliner Zivilgesellschaft auf ein Wort gebeten – nachgefragt, in dieser Coronazeit. Heute Tilmann Weickmann, Geschäftsführer des Landesjugendrings Berlin e.V., im Gespräch mit René Tauschke.
Die Landesfreiwilligenagentur Berlin und das Landesnetzwerk Bürgerengagement Berlin als Veranstalter der Berliner Engagementwoche haben für 2020 ihr Jahresmotto “Lern.Ort.Engagement.” gesetzt. Was bedeutet für Sie das Motto? Was haben Sie aus dem Engagement gelernt oder mitgenommen?
Wir wissen aus der Forschung, dass sich gerade junge Menschen nachhaltige Kompetenzen im ehrenamtlichen Engagement aneignen. Dazu gehören engagementspezifische Kompetenzen, aber auch allgemeine soziale und personale Kompetenzen. Dies hat oft auch Einfluss auf die spätere berufliche Karriere. Ich selbst habe bei meinem Engagement im Jugendverband beispielsweise demokratische Prozesse und Spielregeln kennengelernt, habe gelernt zu moderieren und – nicht zuletzt – Förderanträge zu schreiben. All das kann ich heute noch gut gebrauchen.
Die Jugendlichen sind die Altersgruppe, die sich in Berlin und bundesweit am stärksten ehrenamtlich engagiert. Woran liegt das?
Ich glaube, dass Engagement immer sehr viel damit zu tun hat, wie man selbst auf die Gesellschaft guckt und welche Interessen man hat. Junge Menschen interessieren sich für das, was um sie herum passiert. Sei es im Kleinen oder im Größeren. Sie machen sich eher einen Kopf darüber, was ihnen gefällt und was ihnen nicht gefällt und möchten dann auch oft direkt aktiv werden. Sie haben noch ihr ganzes Leben vor sich und entwickeln Ideen, wie sie das führen wollen. Das führt dazu, dass sie sich für Dinge einsetzen.
Erwachsene sollten nicht erwarten, dass Jugendliche nach den Spielregeln der Erwachsenen funktionieren
Gibt es genügend Partizipationsmöglichkeiten für die Berliner Jugend?
Ich glaube, Jugendliche ergreifen Möglichkeiten der Partizipation oft selbst und warten nicht darauf, dass sie ihnen angeboten werden. Sie nehmen sich das Recht, mitzubestimmen. Ich würde die Frage daher umdrehen und eher fragen: Nehmen Erwachsene es wahr, an welchen Stellen Jugendliche sich äußern und mitbestimmen wollen und an welchen Stellen sie sich mehr Rücksicht auf ihre Interessen wünschen? Erwachsene müssen diese Wünsche sensibel wahrnehmen und verstehen.
Jugendliche äußern ihre Wünsche und ihre Kritik oft so, dass Erwachsene das nicht ganz verstehen oder nicht ernst nehmen. Das kann mehrere Gründe haben – zum Beispiel, dass die Art und Weise der Formulierung in die etablierten Spielregeln nicht hineinpasst. Erwachsene sollten Jugendliche besser wahrnehmen, anstatt zu überlegen, wie das nächste Partizipationsinstrument aussehen kann, das sich Erwachsene ausdenken.
Welche Möglichkeiten gäbe es, um die Wahrnehmung der Erwachsenen gegenüber den Jugendlichen zu stärken?
Ich würde mir wünschen, dass Politiker:innen und Mitarbeiter:innen in der Verwaltung viel öfter direkt mit den Jugendlichen in Kontakt kommen und dort hingehen, wo die Jugendlichen sind – in Jugendfreizeiteinrichtungen, bei Ferienfahrten von Jugendverbänden, in Schulen, vielleicht auch direkt auf der Straße. Dann sollten sie einfach mal zuhören, gucken, was da so passiert und signalisieren, dass sie ansprechbar und interessiert sind. Es ist ganz wichtig, dass sich Erwachsene auf Jugendliche einlassen. Erwachsene sollten nicht erwarten, dass die Jugendlichen nach den Spielregeln der Erwachsenen funktionieren.
Das wäre also vor allem eine Aufgabe für Politik und Verwaltung?
Deswegen muss es dort auch mehr Fortbildungen geben, in denen der Fokus auf Mitbestimmung und Partizipation gelegt wird. Es sollte in Ausbildung und Weiterbildung besonders auf Verwaltungsebene eine größere Rolle spielen. Dabei geht es darum, wie mit den Bürger:innen umgegangen und zugehört wird. Das gilt natürlich auch für andere gesellschaftliche Organisationen, für Verbände, für Vereine, für Religionsgemeinschaften, für Gewerkschaften und in allen Bereichen, in denen Erwachsenen unsere Gesellschaft gestalten.
Wir möchten wissen, wo gibt es Hindernisse, Grenzen, wenn sich junge Menschen engagieren wollen
Wo sehen sie die Jugendverbände und deren Arbeit in den nächsten Jahren?
Ein wichtiges Thema im nächsten Jahr für Jugendverbände ist die Abgeordnetenhauswahl. Da werden wir Themen, die für Jugendliche wichtig sind, einbringen. Zum Beispiel auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Momentan sind nur die Wahlen der Bezirksverordnetenversammlungen ab 16 Jahren in Berlin möglich. Da werden wir uns im nächsten Jahr sehr deutlich für einsetzen.
Auch die Förderung von ehrenamtlichen Engagement werden wir weiter angehen. Wir möchten wissen, was gibt es für Hindernisse, wenn sich junge Menschen engagieren wollen. Wo stoßen sie auf Grenzen? Wo müssen wir Rahmenbedingungen verändern, um es jungen Menschen leichter zu machen, sich zu engagieren?
Digitalisierung spielt im Lebensraum der Jugendlichen eine große Rolle. Was hat die Corona-Krise da am Bewusstsein der Jugendlichen und Erwachsenen vielleicht noch einmal geändert?
Wir haben während des Lockdowns gemerkt, dass es auf der einen Seite wichtig ist, dass Fachkräfte in der Jugendarbeit sich digital besser bewegen können und die wichtigen Voraussetzungen und Ressourcen dafür besitzen. Auf der anderen Seite haben wir auch eine digitale Müdigkeit bei den Jugendlichen festgestellt – besonders wenn man ausschließlich auf die digitale Kommunikation zurückgeworfen wird.
Es gab eine Sehnsucht nach der echten Begegnung mit Menschen – sowohl mit Gleichaltrigen als auch mit Bezugspersonen aus der Jugendarbeit. Nicht vergessen darf man zudem, dass nicht alle Jugendlichen die technischen Voraussetzungen für digitale Kommunikation haben.
Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Wie wünschen Sie sich die Engagement-Landschaft im Jahr 2030?
Ich wünsche mir weiterhin selbstbewusste Gruppen, Vereine und Verbände, die das Leben, die Gesellschaft und die Stadt gestalten möchten. Ich wünsche mir Mut und Energie von Menschen. Staat, Verwaltung und Politik sollten noch besser erkennen, wie wichtig das Interesse der Menschen, die eigenen Lebensbedingungen mitzugestalten, für unsere Gesellschaft ist.
Ehrenamtliches Engagement heißt nicht, für eigentlich staatliche Leistungen einzuspringen oder im Auftrag des Staates bestimmte Aufgaben zu übernehmen, sondern es hat etwas mit gesellschaftlichem Eigensinn zu tun. Das ist ein unheimlicher Wert, der gefördert werden muss.
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zuletzt aktualisiert 14.09.2020