Ich würde mir ein verändertes Gewerbe- und Mietrecht für Vereine wünschen: Susanna Kahlefeld über Engagementpolitik

Engagiert in der Coronazeit

Zehn Jah­re Ber­li­ner En­ga­ge­ment­wo­che: Die Lan­des­frei­wil­li­genagen­tur Ber­lin hat Antrei­ber:innen und Beobachter:innen der Ber­li­ner Zi­vil­ge­sell­schaft auf ein Wort ge­be­ten – nach­ge­fragt, in die­ser Co­ro­na­zeit. Heu­te Dr. Su­san­na Kah­le­feld, Ab­ge­ord­ne­te Frak­ti­on Bünd­nis 90/​Die Grü­nen, Vor­sit­zen­de des Aus­schus­ses Bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment und Par­ti­zi­pa­ti­on, im Ge­spräch mit Re­né Tausch­ke.

Die Lan­des­frei­wil­li­genagen­tur Ber­lin und das Lan­des­netz­werk Bür­ger­en­ga­ge­ment Ber­lin ha­ben als Ver­an­stal­ter auch für die Ber­li­ner En­ga­ge­ment­wo­che ihr Jah­res­mot­to “Lern.Ort.Engage­ment.” ge­wählt. Was be­deu­tet für Sie die­ses Mot­to? Was ha­ben Sie aus dem En­ga­ge­ment ge­lernt oder mitgenommen?

Ich ha­be per­sön­lich ha­be durch En­ga­ge­ment min­des­tens so viel ge­lernt wie durch Stu­di­um und Be­ruf: Fach­li­ches, Struk­tu­ren – wie was funk­tio­niert und wen man an­spre­chen muss -, und na­tür­lich so­zi­al viel da­bei mitgenommen. 

Wie hat die En­ga­ge­ment­wo­che Ber­lin ge­prägt? Was ha­ben die Ver­an­stal­ter in den letz­ten zehn Jah­ren ge­schafft oder geschaffen?

Die En­ga­ge­ment­wo­chen sind nicht mehr weg­zu­den­ken: Sie ma­chen En­ga­ge­ment in der Stadt sicht­bar und sind zur Platt­form für die Dis­kus­sio­nen über En­ga­ge­ment und En­ga­ge­ment­po­li­tik geworden.

Ein riesiger Fortschritt ist die Entwicklung einer immer weiter zu entwickelnden Engagement-Strategie

Vor fünf Jah­ren ha­ben Sie in der Ber­li­ner Wo­che ge­sagt, Sie möch­ten das The­ma En­ga­ge­ment und Be­tei­li­gung im Aus­schuss stär­ken. Wel­che Fort­schrit­te wur­den in den letz­ten Jah­ren erreicht?

Ein rie­si­ger Fort­schritt ist die Ent­wick­lung ei­ner En­ga­ge­ment-Stra­te­gie. Da­für hat die Lan­des­frei­wil­li­genagen­tur, als Kom­pe­tenz­zen­trum für das En­ga­ge­ment in Ber­lin, viel Vor­ar­beit ge­leis­tet. Din­ge, die wir in den letz­ten Jah­ren ge­mein­sam er­ar­bei­tet ha­ben, kön­nen wir in der For­mu­lie­rung der Stra­te­gie fest­hal­ten und in den fol­gen­den Le­gis­la­tu­ren auch im­mer wie­der weiterentwickeln.

Wie hat sich das En­ga­ge­ment in den letz­ten 10 Jah­ren entwickelt?

Das En­ga­ge­ment ist selbst­be­wuss­ter ge­wor­den. Es ver­langt, ge­hört zu wer­den. Es ist da­mit auch po­li­ti­scher ge­wor­den. In dem Sin­ne, dass das En­ga­ge­ment den Ab­ge­ord­ne­ten sehr prä­sent ist und von ih­nen im­mer wie­der be­dacht wird – und wer­den muss. Die Ak­teu­re im zi­vil­ge­sell­schaft­li­chen En­ga­ge­ment ha­ben sich, un­ter an­de­rem durch die Ar­beit der Lan­des­frei­wil­li­genagen­tur, gut ver­netzt und da­durch an Ein­fluss gewonnen.

Die Zivilgesellschaft ist sehr nah an den konkreten sozialen Herausforderungen dran

Sie sa­gen, das En­ga­ge­ment ist po­li­ti­scher ge­wor­den und hat mehr Ein­fluss. Wie kann die Zi­vil­ge­sell­schaft denn po­li­ti­sche Pro­zes­se beeinflussen?

Wenn wir auf das Jahr 2015, aber auch 2020, se­hen, dann zeigt sich, dass die Zi­vil­ge­sell­schaft sehr nah an den kon­kre­ten so­zia­len Her­aus­for­de­run­gen dran ist. Sie or­ga­ni­siert sich schnell und baut in kür­zes­ter Zeit ef­fek­ti­ve Struk­tu­ren auf, um kon­kre­te Hil­fen umzusetzen.

Die Po­li­tik ist gut be­ra­ten, auf die Stim­men aus dem En­ga­ge­ment zu hö­ren und im Dia­log zu blei­ben. So vie­le kon­kre­te Lö­sungs­vor­schlä­ge für Her­aus­for­de­run­gen kom­men aus dem En­ga­ge­ment. An­ge­fan­gen bei der Un­ter­brin­gung, Bil­dung und Be­glei­tung in den Ar­beits­markt von Ge­flüch­te­ten, Nach­hil­fe für Kin­der oder die Nach­bar­schafts­an­ge­bo­te für An­ge­hö­ri­ge der Ri­si­ko­grup­pe in Zei­ten von Corona. 

Wenn man mit frei­wil­lig En­ga­gier­ten, mit Ver­ei­nen und Ver­bän­den über ih­re Wün­sche spricht, dann kommt als Ant­wort vor al­lem: Sicht­bar­keit und Wert­schät­zung. Was ist da­hin­ge­hend in den letz­ten Jah­ren pas­siert? Wo sind noch Baustellen?

Die Wert­schät­zung be­steht mei­ner An­sicht nach viel mehr dar­in, in den Dia­log zu ge­hen und die Wün­sche aus dem En­ga­ge­ment ernst zu neh­men. Da­zu ge­hört zum Bei­spiel, dass die In­itia­ti­ven Ansprechpartner:innen in der Ver­wal­tung ha­ben und in­for­miert sind, wie weit sie in­ter­es­sie­ren­de Ent­schei­dungs­pro­zes­se sind.

Eben­so, dass die In­itia­ti­ven mit ih­ren Fach­leu­ten und ‑kennt­nis­sen ge­hört wer­den, denn sie be­fas­sen sich täg­lich mit den je­wei­li­gen The­men. Da­zu ge­hört aber auch, dass es fes­te Ansprechpartner:innen zu Fra­gen der Fi­nan­zie­rung und zur Di­gi­ta­li­sie­rung gibt und dass die Po­li­tik den Raum­man­gel ernst nimmt.

Ich wür­de mir ein ver­än­der­tes Ge­wer­be- und Miet­recht für Ver­ei­ne wün­schen. Die In­itia­ti­ven er­hal­ten Blu­men­sträu­ße für ihr täg­li­ches En­ga­ge­ment, die ge­sell­schaft­li­chen Lü­cken zu schlie­ßen, aber bei exis­ten­zi­el­len Fra­gen in Be­zug auf Miet- und Ge­wer­be­recht müs­sen die Ver­ei­ne selbst zurechtkommen.

In Coronazeiten: Wir wissen jetzt ganz genau, wofür sich digitale Formate eignen und wofür nicht

Co­ro­na hat vie­le Ver­ei­ne und Ver­bän­de in ih­rer re­gu­lä­ren Ar­beit ge­schwächt, an­de­re wur­den durch die Si­tua­ti­on und durch das gro­ße En­ga­ge­ment ge­stärkt. Wel­che Aus­wir­kun­gen hat Co­ro­na auf den Engagementbereich?

Ich ma­che mir Sor­gen, dass vie­len Ver­ei­nen die Ein­nah­men weg­bre­chen, sie ih­re Mie­te nicht mehr zah­len kön­nen und die Räum­lich­kei­ten ver­lie­ren. Ich hof­fe, dass Ber­lin das Hilfs­pro­gramm um­setzt, wel­ches an­ge­dacht ist, da­mit die viel­fäl­ti­ge En­ga­ge­ment-Land­schaft wei­ter be­stehen kann.

Un­ab­hän­gig da­von ist es auf der ei­nen Sei­te schwie­rig, sich zu en­ga­gie­ren, wenn man sich nicht mehr be­geg­nen kann. Be­son­ders in den In­itia­ti­ven, die die phy­si­sche Be­geg­nung brau­chen bzw. dar­auf be­ru­hen. Da­zu ge­hö­ren die Selbst­hil­fe­grup­pen oder Sport­ver­ei­ne. Der En­ga­ge­ment-Be­reich ist da­durch auf je­den Fall gebeutelt.

Auf der an­de­ren Sei­te wird das, was man jetzt di­gi­tal zu ma­chen ma­chen ge­lernt hat, auch blei­ben. Wir wis­sen jetzt ganz ge­nau, wo­für sich di­gi­ta­le For­ma­te eig­nen und wo­für nicht. Das ist ein Be­reich, der ge­stärkt wor­den ist – durch die Er­fah­run­gen aus der Co­ro­na-Zeit. Dar­auf kann man auf­bau­en. Ich bin aber ins­ge­samt zu­ver­sicht­lich, dass sich das En­ga­ge­ment schnell wie­der er­ho­len und wach­sen wird, wenn die Co­ro­na-Kri­se hin­ter uns liegt. Auch, wenn es uns viel Kraft kos­ten wird.

Seit Co­ro­na gibt es ei­nen neu­en Be­griff. Trifft die­ser auch auf das En­ga­ge­ment zu: Ist En­ga­ge­ment systemrelevant?

Das war es schon im­mer. Die gro­ße Un­ge­rech­tig­keit ist, dass es schon im­mer sys­tem­re­le­vant war, aber das erst so spät, näm­lich nach 2015 im po­li­ti­schen Dis­kurs an­ge­kom­men ist, als so vie­le Ge­flüch­te­te in Ber­lin auf­ge­nom­men wur­den. Die Co­ro­na-Kri­se schenkt uns nur noch das ge­eig­ne­te Wort da­zu: „sys­tem­re­le­vant“. Un­se­re Ge­sell­schaft lebt vom Engagement.

Lern.Ort.Engagement. | 10. Ber­li­ner En­ga­ge­ment­wo­che | Auf ein Wort
zu­letzt ak­tua­li­siert 11.09.2020