Ich würde mir ein verändertes Gewerbe- und Mietrecht für Vereine wünschen: Susanna Kahlefeld über Engagementpolitik
Notiert von jor ~ 11. September 2020 ~
Zehn Jahre Berliner Engagementwoche: Die Landesfreiwilligenagentur Berlin hat Antreiber:innen und Beobachter:innen der Berliner Zivilgesellschaft auf ein Wort gebeten – nachgefragt, in dieser Coronazeit. Heute Dr. Susanna Kahlefeld, Abgeordnete Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Vorsitzende des Ausschusses Bürgerschaftliches Engagement und Partizipation, im Gespräch mit René Tauschke.
Die Landesfreiwilligenagentur Berlin und das Landesnetzwerk Bürgerengagement Berlin haben als Veranstalter auch für die Berliner Engagementwoche ihr Jahresmotto “Lern.Ort.Engagement.” gewählt. Was bedeutet für Sie dieses Motto? Was haben Sie aus dem Engagement gelernt oder mitgenommen?
Ich habe persönlich habe durch Engagement mindestens so viel gelernt wie durch Studium und Beruf: Fachliches, Strukturen – wie was funktioniert und wen man ansprechen muss -, und natürlich sozial viel dabei mitgenommen.
Wie hat die Engagementwoche Berlin geprägt? Was haben die Veranstalter in den letzten zehn Jahren geschafft oder geschaffen?
Die Engagementwochen sind nicht mehr wegzudenken: Sie machen Engagement in der Stadt sichtbar und sind zur Plattform für die Diskussionen über Engagement und Engagementpolitik geworden.
Ein riesiger Fortschritt ist die Entwicklung einer immer weiter zu entwickelnden Engagement-Strategie
Vor fünf Jahren haben Sie in der Berliner Woche gesagt, Sie möchten das Thema Engagement und Beteiligung im Ausschuss stärken. Welche Fortschritte wurden in den letzten Jahren erreicht?
Ein riesiger Fortschritt ist die Entwicklung einer Engagement-Strategie. Dafür hat die Landesfreiwilligenagentur, als Kompetenzzentrum für das Engagement in Berlin, viel Vorarbeit geleistet. Dinge, die wir in den letzten Jahren gemeinsam erarbeitet haben, können wir in der Formulierung der Strategie festhalten und in den folgenden Legislaturen auch immer wieder weiterentwickeln.
Wie hat sich das Engagement in den letzten 10 Jahren entwickelt?
Das Engagement ist selbstbewusster geworden. Es verlangt, gehört zu werden. Es ist damit auch politischer geworden. In dem Sinne, dass das Engagement den Abgeordneten sehr präsent ist und von ihnen immer wieder bedacht wird – und werden muss. Die Akteure im zivilgesellschaftlichen Engagement haben sich, unter anderem durch die Arbeit der Landesfreiwilligenagentur, gut vernetzt und dadurch an Einfluss gewonnen.
Die Zivilgesellschaft ist sehr nah an den konkreten sozialen Herausforderungen dran
Sie sagen, das Engagement ist politischer geworden und hat mehr Einfluss. Wie kann die Zivilgesellschaft denn politische Prozesse beeinflussen?
Wenn wir auf das Jahr 2015, aber auch 2020, sehen, dann zeigt sich, dass die Zivilgesellschaft sehr nah an den konkreten sozialen Herausforderungen dran ist. Sie organisiert sich schnell und baut in kürzester Zeit effektive Strukturen auf, um konkrete Hilfen umzusetzen.
Die Politik ist gut beraten, auf die Stimmen aus dem Engagement zu hören und im Dialog zu bleiben. So viele konkrete Lösungsvorschläge für Herausforderungen kommen aus dem Engagement. Angefangen bei der Unterbringung, Bildung und Begleitung in den Arbeitsmarkt von Geflüchteten, Nachhilfe für Kinder oder die Nachbarschaftsangebote für Angehörige der Risikogruppe in Zeiten von Corona.
Wenn man mit freiwillig Engagierten, mit Vereinen und Verbänden über ihre Wünsche spricht, dann kommt als Antwort vor allem: Sichtbarkeit und Wertschätzung. Was ist dahingehend in den letzten Jahren passiert? Wo sind noch Baustellen?
Die Wertschätzung besteht meiner Ansicht nach viel mehr darin, in den Dialog zu gehen und die Wünsche aus dem Engagement ernst zu nehmen. Dazu gehört zum Beispiel, dass die Initiativen Ansprechpartner:innen in der Verwaltung haben und informiert sind, wie weit sie interessierende Entscheidungsprozesse sind.
Ebenso, dass die Initiativen mit ihren Fachleuten und ‑kenntnissen gehört werden, denn sie befassen sich täglich mit den jeweiligen Themen. Dazu gehört aber auch, dass es feste Ansprechpartner:innen zu Fragen der Finanzierung und zur Digitalisierung gibt und dass die Politik den Raummangel ernst nimmt.
Ich würde mir ein verändertes Gewerbe- und Mietrecht für Vereine wünschen. Die Initiativen erhalten Blumensträuße für ihr tägliches Engagement, die gesellschaftlichen Lücken zu schließen, aber bei existenziellen Fragen in Bezug auf Miet- und Gewerberecht müssen die Vereine selbst zurechtkommen.
In Coronazeiten: Wir wissen jetzt ganz genau, wofür sich digitale Formate eignen und wofür nicht
Corona hat viele Vereine und Verbände in ihrer regulären Arbeit geschwächt, andere wurden durch die Situation und durch das große Engagement gestärkt. Welche Auswirkungen hat Corona auf den Engagementbereich?
Ich mache mir Sorgen, dass vielen Vereinen die Einnahmen wegbrechen, sie ihre Miete nicht mehr zahlen können und die Räumlichkeiten verlieren. Ich hoffe, dass Berlin das Hilfsprogramm umsetzt, welches angedacht ist, damit die vielfältige Engagement-Landschaft weiter bestehen kann.
Unabhängig davon ist es auf der einen Seite schwierig, sich zu engagieren, wenn man sich nicht mehr begegnen kann. Besonders in den Initiativen, die die physische Begegnung brauchen bzw. darauf beruhen. Dazu gehören die Selbsthilfegruppen oder Sportvereine. Der Engagement-Bereich ist dadurch auf jeden Fall gebeutelt.
Auf der anderen Seite wird das, was man jetzt digital zu machen machen gelernt hat, auch bleiben. Wir wissen jetzt ganz genau, wofür sich digitale Formate eignen und wofür nicht. Das ist ein Bereich, der gestärkt worden ist – durch die Erfahrungen aus der Corona-Zeit. Darauf kann man aufbauen. Ich bin aber insgesamt zuversichtlich, dass sich das Engagement schnell wieder erholen und wachsen wird, wenn die Corona-Krise hinter uns liegt. Auch, wenn es uns viel Kraft kosten wird.
Seit Corona gibt es einen neuen Begriff. Trifft dieser auch auf das Engagement zu: Ist Engagement systemrelevant?
Das war es schon immer. Die große Ungerechtigkeit ist, dass es schon immer systemrelevant war, aber das erst so spät, nämlich nach 2015 im politischen Diskurs angekommen ist, als so viele Geflüchtete in Berlin aufgenommen wurden. Die Corona-Krise schenkt uns nur noch das geeignete Wort dazu: „systemrelevant“. Unsere Gesellschaft lebt vom Engagement.
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zuletzt aktualisiert 11.09.2020