Nicht nur komplex, auch vielgesichtig: (Politische) Beteiligung in Berlin
Notiert von Carola Schaaf-Derichs ~ 23. September 2013 ~
Zum ersten Runden Tisch zur Förderung des Freiwilligen Engagements in Berlin im Jahr 2013 hatte am letzten Donnerstag Martin Beck, MdA Bü90/Die Grünen, Sprecher für Soziales, Bürgerschaftliches Engagement und Sport und Vorsitzender des neuen Ausschusses für Bürgerschaftliches Engagement als Pate ins Berliner Abgeordnetenhaus eingeladen. Das Thema am bundesweiten Thementag Partizipation und Bürgerbeteiligung. Mitgestalten und Mitverantworten – Demokratie stärken in der Woche des bürgerschaftlichen Engagements: Die politische Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Erfahrungen und Erwartungen in Berlin.
Carola Schaaf-Derichs vom Veranstalter, der Landesfreiwilligenagentur Berlin – Treffpunkt Hilfsbereitschaft, hatte wie immer die Moderation und den Einstieg übernommen:
Herzlich willkommen zum ersten Runden Tisch zur Förderung des Freiwilligen Engagements in Berlin im Jahr 2013. Wir schreiben damit bereits 13 Jahre Geschichte für diesen Politik-Bürger-Dialog auf Augenhöhe, dessen bisheriger Verlauf im Wissensspeicher auf www.runder-tisch.freiwillig.info↵ organisiert nachzuvollziehen ist.
Herzlichen Dank an Herrn MdA Beck für die Übernahme der Patenschaft, was die Diskussion des Themas Bürgerbeteiligung bedeutet als auch die Gastgeberschaft im Abgeordnetenhaus. Und herzlichen Dank an die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales, die drei Runde Tische auch für das Jahr 2013 wieder unterstützt.
Heute ist der Thementag des Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement zur „Bürgerbeteiligung“↵ und so gab es gleich mehrere Gelegenheiten zum Austausch, die ich gerne einfließen lassen möchte. Aus unserer Recherche über das Feld der Bürgerbeteiligung kamen wir zu folgenden Befunden, die Sie z.T. auch als Tischvorlagen vorfinden:
⇒ Mit Fabian Reidinger↵ unterscheiden wir zunächst formal im Wesentlichen zwei Formen der politischen Beteiligung: Zum einen Wahlen, Bürgerbegehren bzw. Bürgerentscheide, Bürgerantrag, Bürgerversammlung und zum anderen die formelle Bürgerbeteiligung im Rahmen von Planungsprozessen. Diese sind rechtlich stark formalisiert. Nur bei Wahlen und Bürgerentscheiden ist das konkrete Ergebnis auch rechtlich verbindlich. Berlin hat als letztes Bundesland im Jahr 2005 die Bürgerbegehren und Bürgerentscheide (auf Bezirksebene) eingeführt. Seitdem stehen in allen Bundesländern diese Instrumente zur Verfügung.⇒ Seit den 70er Jahren gibt es informelle Methoden zur Bürgerbeteiligung wie Planungszellen, Bürgerräte, Runde Tische und mehr.
⇒ Und es gibt natürlich das Bürgerschaftliche Engagement als Weg der Mitgestaltung, des Mitwirkens an gesellschaftlichen Fragestellungen und Problemen.⇒ Der Begriff der Bürgerbeteiligung ist daher z.T. noch verwirrend vielfältig im Einsatz.
⇒ Aktuell haben mehrere Städte sogenannte Leitsätze zur Bürgerbeteiligung entwickelt, so wie die Stadt Mannheim↵ im Rahmen ihres Verwaltungsmodernisierungsprozesses 2011 zur Bürgerstadt. Dort heißt es im ersten Leitsatz:
“Bürgerbeteiligung ist von allen ernsthaft gewollt. Bürgerbeteiligung ist der gemeinsame Auftrag der gesamten Stadtgesellschaft und braucht das Engagement von Bürgerschaft, Politik und Verwaltung. Dieses Selbstverständnis ist eingebettet in eine kommunale Gesamtstrategie und drückt sich nicht nur in der Zahl, sondern auch der Qualität der Beteiligungsprozesse aus. Dafür notwendige Ressourcen werden zur Verfügung gestellt.“
⇒ Auch die Stadt Heidelberg und insgesamt 20 Städte in Baden-Württemberg haben sich diesem Prozess verschrieben. Erste Ergebnisse einer Evaluierung der Umsetzung werden für Mitte 2014 erwartet.⇒ Eine Untersuchung zum Thema „Gemeinwohl“ ergab, dass dieser Begriff autoritativ im Sinne des Vorrangs staatlichen Handelns unterlegt ist und der Begriff „Gemeinsinn“ für das gleichberechtigte Agieren von Bürger und Staat eine bessere Messlatte ergeben sollte.
⇒ Schließlich gab es am vergangenen Sonntag in Bayern einen Volksentscheid zur Ehrenamtsförderung↵ als Staatsziel. Trotz 90,8 Ja-Stimmen zur Förderung des ehrenamtlichen Einsatzes für das Gemeinwohl wurde vom Bayerischen Landtag festgehalten:
„Ein Rechtsanspruch gegen das Land oder Gemeinden auf eine konkrete, insbesondere auch finanzielle Förderung des ehrenamtlichen Einsatzes für das Gemeinwohl kann hieraus jedoch nicht abgeleitet werden.“Das Thema ist also nicht nur komplex, es ist auch vielgesichtig. Wir sehen diesen Runden Tisch daher als Möglichkeit an, in Berlin einen ersten Befund aus der Praxis miteinander in Austausch zu bringen.
Nun freuen wir uns auf das einleitende Statement unseres Paten.
Martin Beck (MdA), hier in
einigen Stichworten:
⇒ Auch in Berlin stellt sich die Frage bei den Beteiligungsstrukturen, wo wir sie ausbauen sollen. Z.B. hat die Initiative „Jede Stimme e.V.“↵ vor wenigen Tagen mit einer Menschenkette demonstriert, wie viele Menschen nicht vom Recht auf demokratische Wahlen profitieren können.
⇒ Ebenso gab es viele Anwohnerproteste bei den Baumaßnahmen am Mauerpark, die allerdings keinen Einfluss erzielen konnten.
⇒ Das Quartiersmanagement↵ ist im Kleinen eine Maßnahme zur Bürgerbeteiligung. So wie dieses Programm 1999 anfing, war es vielversprechend und unkompliziert, zuletzt aber leider voller bürokratischer Hürden. Diese gilt es abzubauen.
⇒ Auch Budgetverfahren im lokalräumlichen Umfeld sollten stärker gefördert werden.
⇒ Der Bezirk Lichtenberg ist das Modell für den Bürgerhaushalt↵ deutschlandweit geworden.⇒ In meiner früheren Funktion als Leiter der “Fabrik Osloer Strasse↵” konnte ich selbst die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Projekt Kindermuseum Labyrinth↵ mit vielfältigen Aktionen unterstützen.
⇒ Schließlich sei auf das „Handbuch Partizipation“↵ verwiesen, das den Umgang mit Bürgern und Beteiligungsverfahren im öffentlichen Sektor im Sinne der Sozialraumorientierung umfassend beschreibt.
Ich bin nun also gespannt, was wir heute gemeinsam zu diesem Themenfeld zusammen tragen und diskutieren können.
Abschließend seien noch einige Aussagen und Bemerkungen vom Runden Tisch notiert; die Dokumentation selber ist in Vorbereitung und erscheint dann wieder in der bekannten Weise im Blog der Runden Tische:
⇒ An der „U‑18-Wahl“ für Kinder und Jugendliche↵ unter 18 Jahren, veranstaltet vom Berliner Landesjugendring, haben sich nur 12 – 14 % beteilig. Woran liegt das? Sind Schulen nur Orte der reinen Wissensvermittlung, nicht aber der Teilhabe?
⇒ Auch bei der sog. e‑participation, den elektronischen Beteiligungsverfahren für Jugendliche, hängt die Beteiligung stark von den von den Bezirken dafür eingesetzten Mitteln und Instrumenten ab. Diese aber unterscheiden sich sehr.
⇒ Das sog. Berlin Jugend-Forum↵, bei dem Jugendliche zum Kennenlernen der Arbeit für die parlamentarische Demokratie in das Abgeordnetenhaus von Berlin eingeladen werden, wird zum Teil eher als PR empfunden.⇒ Politik wird zu wenig in der Schule verankert. Es sollte dazu mehr verpflichtende Programme geben. Das Berliner Jugend-Forum ist daher ein wichtiger Schritt, „Politik zum Anfassen“ erlebbar zu machen und zeitigt viele interessante Gespräche mit Jugendlichen.
⇒ Bürgerschaftliches Engagement sollte als Fach in den Schulen verankert werden. So können Engagement-Interessen bei den Kindern und Jugendlichen schon früh gefördert werden, Partizipation erlernt, Demokratie-Lernen ermöglicht.
⇒ Diese Veränderung würde aber ein anderes Konzept von Schule benötigen, damit sich Kinder und Jugendliche im eigenen Umfeld beteiligen können und mitbestimmen. Freie Schulen setzen dies z.T. schon sehr erfolgreich um. Das Projekt „Stadt als Schule“↵ und der Ansatz des „Produktiven Lernens“ bewirken von der Schule aus die Öffnung hin zu anderen Institutionen des öffentlichen Lebens.
⇒ Die Teilhabe von Senioren in Berlin ist ebenso ein Thema. Die Seniorenbegegnungsstätten werden geschlossen, trotz des Seniorenmitwirkungsgesetzes↵ ist die Wahlbeteiligung äußerst gering.⇒ Auch für Menschen, die unter einer gesetzlichen Betreuung stehen, ist es oft unklar, ob sie wahlberechtigt seien. Auch für Menschen mit Behinderung sind viele Fragen offen, was die tatsächliche Teilnahmemöglichkeit an der Wahl betrifft. Hier müssen Strukturen geschaffen werden.
⇒ Die Initiative wirBerlin↵ hat in den letzten drei Jahren durch ihre Aktionstage „Saubere Stadt“↵ erfahren, wie wichtig die mediale Aufmerksamkeit für die Bürgerbeteiligung sei. Und es war ein Lernprozess für die öffentliche Verwaltung, dass sie auf die Bürger zugehen muss, um Beteiligung zu ermöglichen.
⇒ Die Medienlandschaft hat eine Mobilisierungsfunktion, aber es braucht auch gesetzliche Entwicklungen, es braucht Ermunterung, Ermöglichung für Bürgerbeteiligung, anders als im sog. „Bello-Dialog“↵.
⇒ Im Rückblick auf die letzten zehn Jahre ist es – nicht zuletzt durch die mediale Berichterstattung – für das Bürgerschaftliche Engagement leichter geworden. Allerdings schwerer geworden ist die Übersicht und die Vernetzung, wie sie von der Landesfreiwilligenagentur Berlin nach wie vor praktiziert wird. Für Berlin braucht es daher Verabredungen von höchster Ebene, wie wir strukturell mit dem Bürgerschaftlichen Engagement umgehen wollen.⇒ Die „Fails“ beim Bürgerschaftliches Engagement wie bei der Bürgerbeteiligung aufgearbeitet werden, um aus Fehlentwicklungen zu lernen. Insgesamt sollte mehr „Open Government“ praktiziert werden, um das staatliche Handeln für Bürger transparent zu machen.
⇒ Die Berliner Verwaltungen müssen hinsichtlich Bürgerbeteiligung geschult werden.
Mehr lesen von den Runden Tischen seit 2001: runder-tisch.freiwillig.info
Alle Fotos: Jo Rodejohann