Menschen müssen das Gefühl haben, es wird ihnen einfach gemacht, sich zu engagieren: Gerd Nowakowski über Herausforderungen
Notiert von jor ~ 18. September 2020 ~
Zehn Jahre Berliner Engagementwoche: Die Landesfreiwilligenagentur Berlin hat Antreiber:innen und Beobachter:innen der Berliner Zivilgesellschaft auf ein Wort gebeten – nachgefragt, in dieser Coronazeit. Heute Gerd Nowakowski, Leitender Redakteur beim Tagesspiegel, im Gespräch mit René Tauschke.
Das diesjährige Motto lautet „Lern.Ort.Engagement“. Was haben Sie durch das Engagement gelernt oder mitgenommen?
Wir haben in der Corona-Krise gelernt, wie schnell auch die Politik und Verwaltung in einer gut organisierten und wohlhabenden Gesellschaft an den Rand der Überlastung kommt, und wie wichtig in einer solchen Situation das Engagement der Menschen ist. Sich zu engagieren, und festzustellen, dass man dabei nette Menschen trifft und der Einsatz das eigene Leben bereichert: All das kann man lernen, etwa bei der Engagementwoche – deswegen ist diese auch ein besonderer Lern-Ort.
Welche Rolle spielt die Landesfreiwilligenagentur Berlin als Veranstalterin der Engagementwoche für das Engagement in Berlin?
Die Landesfreiwilligenagentur Berlin bündelt viele Aktivitäten rund um das Ehrenamt und ist zugleich ein Seismograph für Veränderungen und neue Felder des Engagements, die sich aus neuen gesellschaftlichen Problemen oder neuen Herausforderungen entwickeln – etwa durch die Flüchtlingskrise. Die Landesfreiwilligenagentur hat sich auch darin bewährt, der Politik den Handlungsbedarf zur Unterstützung dieser neuen Engagementsfelder deutlich zu machen.
In welcher Verfassung ist die Berliner Engagement-Landschaft aktuell?
Als leitender Redakteur des Tagesspiegels hatten Sie immer einen besonderen Blick auf das Engagement der Berliner:innen: Sie haben die Aktionstage „Gemeinsame Sache – Berliner Freiwilligentage“ gegründet und den Ehrenamts-Newsletter „Ehrensache“ ins Leben gerufen. In welcher Verfassung ist die Berliner Engagement-Landschaft aktuell?
Die Berliner Engagement-Landschaft ist im Augenblick in einer guten Verfassung. Wir haben es in der Corona-Krise alle erlebt, wie die Zivilgesellschaft, wie die ehrenamtlich tätigen Menschen in Berlin ein Engagement gezeigt haben, das alle Erwartungen übertroffen hat. An ganz vielen Stellen sind Nachbarschaften zusammen gewachsen. Tausende von Menschen haben sich etwas ausgedacht, um diejenigen zu helfen, die Corona-bedingt zu Hause oder in Pflegeheimen allein bleiben mussten.
Um den Alltag in der Isolation aufzuhellen, sind sie für Nachbar:innen einkaufen gegangen oder haben Briefe an die Bewohner:innen im Pflegeheim geschrieben. Dazu gehört auch die Unterstützung der kulturellen Einrichtungen durch Spenden. Das war beeindruckend und herzerwärmend. Diesen Schwung nehmen wir mit in die Engagementwoche. Es ist ein guter Zeitpunkt, um auch diese Freiwilligen und Engagierten zu würdigen und wertzuschätzen, für das, was sie gemacht haben. Das war insgesamt eine Sternstunde der Zivilgesellschaft.
Berlin hat einige turbulente Jahre hinter sich, besonders positiv im Kopf blieb die Flüchtlingskrise 2015. Wie hat sich das Engagement in Berlin über die Jahre entwickelt?
Berlin war sowohl im Osten als auch im Westen ein schwieriges Pflaster. Im Ostteil der Stadt gab es eine bevormundende Regierung. Engagement war da negativ besetzt. Wer sich engagierte, war immer verdächtig. Die Pflicht zu sogenannten freiwilligen Aktionen hat dazu beigetragen, dass das Engagement im Ostteil der Stadt einen schlechten Ruf hatte. Nach dem Mauerfall brauchte es dementsprechend lange, bis sich dort überhaupt eine Freiwilligenkultur entwickeln konnte.
Im Westteil der Stadt dagegen gab es unter der Bundesregierung in Bonn einen wahnsinnig aufgeblähten öffentlichen Dienst und den Anspruch, vollversorgender Sozialstaat zu sein – aber keine entwickelte Freiwilligenkultur. Auch da kam erst nach dem Mauerfall etwas in Bewegung.
Erst in der Flüchtlingskrise hat sich gezeigt, welche Stärke die Engagierten dieser Stadt entwickelt haben
In meinen Augen hat sich erst in der Flüchtlingskrise 2015 gezeigt, welche Stärke die Engagierten dieser Stadt entwickelt haben. Das Engagement war auch schon vorher da. Aber 2015 haben sich Menschen für die Flüchtlinge engagiert und haben es geschafft, das Verwaltungsversagen zu kompensieren. Sie haben Essen besorgt, Sprachkurse angeboten und Patenschaften übernommen. Das war eine ganz große Leistung, die dazu beigetragen hat, dass die Integration dieser Menschen erleichtert wurde.
Inwieweit prägt und fördert Berlin das Engagement?
Wir haben eine entwickelte Engagement-Landschaft, dazu hat auch die Landesregierung beigetragen. Staatssekretärin Sawsan Chebli hat eine gute Arbeit gemacht. Nicht nur, weil sie sich mit Empathie um diesen Bereich gekümmert hat, sondern auch weil sie es geschafft hat, dass alle Bezirke Freiwilligenagenturen haben und damit Anlaufstellen bieten für Engagierte und um Menschen ins Ehrenamt zu bringen.
Der Politik sollte aber noch viel deutlicher bewusst sein, dass die Menschen, die sich engagieren auch für die Werte einer freiheitlichen und toleranten Gesellschaft einstehen. Besonders im Hinblick auf die Gefährdung der demokratischen Gesellschaft durch Rechtspopulismus und andere Gruppierungen.
Den Ehrenamts-Newsletter „Ehrensache“ gibt es nun schon seit einem Jahr. Wie fällt Ihr Zwischenfazit aus? Wie ist das Feedback?
Als wir den Newsletter gestartet haben, waren wir unsicher, ob das funktioniert. Es ist dann aber in einem Tempo gewachsen, das uns überrascht hat. Das zeigt auch, wie vielfältig das Engagement ist. Häufig lerne ich Initiativen kennen, von denen ich vorher noch nicht gehört habe. Das ist im positiven Sinne immer wieder eine tolle Erfahrung.
Das Anliegen des Tagesspiegels ist es seit vielen Jahren, das Engagement zu stärken. Vor vielen Jahren habe ich die Aktionstage „Gemeinsame Sache“ für den Tagesspiegel initiiert, um engagierte Menschen zu würdigen und damit zugleich Anknüpfungspunkte für interessierte Menschen zu schaffen.
Oft hat man ein Interesse, sich irgendwie zu engagieren, man traut sich aber nicht, da man unsicher ist, ob man willkommen ist. An diesen Aktionstagen weiß man: Ich bin willkommen und die Tür steht offen. Wenn es mir dann gefällt, dann bleibt man vielleicht auch dabei.
Chancen und Herausforderungen im bürgerschaftlichen Engagement in den nächsten Jahren
Sehen Sie den Journalismus oder Tageszeitungen noch viel mehr in der Pflicht, das Engagement zu würdigen?
Ja, ich glaube, dass es eine Aufgabe von Zeitungen ist. Schlechte Nachrichten abbilden, das kann jeder. Gute Nachrichten zu produzieren, ist auch eine Aufgabe von Zeitungen.
Werfen wir einmal einen Blick in die Zukunft. Welche Chancen und Herausforderungen sehen Sie im bürgerschaftlichen Engagement in den nächsten Jahren?
Die Wertschätzung und die Würdigung der Engagierten muss noch stärker werden. Im kommenden Jahr, wenn Berlin den Titel „Europäische Hauptstadt des freiwilligen Engagements“ trägt, ist ein guter Zeitpunkt darüber nachzudenken, ob man das Engagement auf vielen Ebenen erleichtert. Es fängt damit an, dass viele ihre eigenen BVG-Fahrscheine bezahlen müssen, obwohl sie ständig im Einsatz sind. Man muss jungen Menschen leichter die Möglichkeit geben, sich zu engagieren.
Es ist nicht mehr so wie früher, dass man einmal in den Verein eintritt und dann ist man 30 Jahre lang Vereinskassierer. Damit will ich niemanden gering schätzen, aber wir dürfen auch nicht ignorieren, dass die Lebensverhältnisse heute anders sind.
Die Menschen sind beweglicher und müssen beweglicher sein. Jungen Menschen, die sich engagieren, sollten wir zum Beispiel einen Bonus bei der Studienplatzsuche bieten können. So können diese in Berlin studieren und sich weiter engagieren und müssen nicht aufgrund des Numerus Clausus in eine andere Stadt ziehen. Die Menschen müssen das Gefühl haben, sie werden gewürdigt und es wird ihnen einfach gemacht, sich zu engagieren. Das sehe ich als eine große Herausforderung.
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zuletzt aktualisiert 20.09.2020
Foto: Der Tagesspiegel / Kai-Uwe Heinrich