Im Moment hat es der Demokratie-Begriff aber nicht so leicht: Hannah Göppert über die Demokratie – gemeinsam mit Maja Bogojević

Engagiert in der Coronazeit

Zehn Jah­re Ber­li­ner En­ga­ge­ment­wo­che: Die Lan­des­frei­wil­li­genagen­tur Ber­lin hat Antrei­ber:innen und Beobachter:innen der Ber­li­ner Zi­vil­ge­sell­schaft auf ein Wort ge­be­ten – nach­ge­fragt, in die­ser Co­ro­na­zeit. Heu­te Han­nah Göp­pert, Die Of­fe­ne Ge­sell­schaft, und Ma­ja Bo­go­je­vić, Mi­gra­ti­ons­rat Ber­lin, im Ge­spräch mit Re­né Tausch­ke.

Die Lan­des­frei­wil­li­genagen­tur Ber­lin und das Lan­des­netz­werk Bür­ger­en­ga­ge­ment Ber­lin als Ver­an­stal­ter der Ber­li­ner En­ga­ge­ment­wo­che ha­ben für 2020 ihr Jah­res­mot­to “Lern.Ort.En­ga­ge­ment.” ge­setzt. Was be­deu­tet für Sie das Mot­to? Was ha­ben Sie aus dem En­ga­ge­ment ge­lernt oder mitgenommen?

Hannah Göppert

Han­nah: Hier kann ich nur aus mei­nen per­sön­li­chen Er­fah­run­gen spre­chen – ge­he aber da­von aus, dass vie­le En­ga­gier­te es ganz ähn­lich er­le­ben. Für mich selbst wa­ren En­ga­ge­ment und Ak­ti­vis­mus im­mer auch ein wert­vol­les Lern­feld. Nach dem Ab­itur ha­be ich ge­mein­sam mit an­de­ren Per­so­nen aus ganz Eu­ro­pa ei­nen Frei­wil­li­gen­dienst in ei­nem selbst­or­ga­ni­sier­ten Kunst- und Kul­tur­zen­trum in Schott­land ge­macht. Dies war für mich ganz buch­stäb­lich ein wahn­sin­ni­ger Lern­ort, der mich bis heu­te prägt.

Ich war im­mer wie­der in ver­schie­de­nen Kon­tex­ten po­li­tisch en­ga­giert – und ha­be da­bei ei­ne Men­ge von An­de­ren ge­lernt. Zum Bei­spiel über ba­sis­de­mo­kra­ti­sche Pro­zes­se und Or­ga­ni­sa­ti­ons­for­men, po­li­ti­sche Bil­dung, stra­te­gi­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on – aber auch die be­stär­ken­de Er­fah­rung ge­sam­melt, ge­mein­sam für et­was zu kämp­fen. En­ga­ge­ment kann al­so ei­ne gro­ße Res­sour­ce sein.

Gleich­zei­tig fin­de ich es in dem Zu­sam­men­hang wich­tig, dass En­ga­ge­ment oft auch mit Hür­den ver­bun­den ist. Denn man muss erst ein­mal wis­sen, wo man sich en­ga­gie­ren kann, man be­nö­tigt die rich­ti­gen Kon­tak­te, um dar­auf auf­merk­sam zu wer­den, oder es fehlt an (zeit­li­chen) Ka­pa­zi­tä­ten. Um den Lern.Ort.Engagement. mög­lichst of­fen und zu­gäng­lich zu ma­chen, soll­te wir mög­lichst vie­le un­ter­schied­li­che An­knüp­fungs­punk­te, Zu­gän­ge und En­ga­ge­ment­mög­lich­kei­ten schaffen.

Demokratietag

Am 15. Sep­tem­ber wird der Ber­li­ner De­mo­kra­tietag ge­fei­ert. Was be­deu­tet De­mo­kra­tie für Euch persönlich?

Han­nah: Ich fin­de De­mo­kra­tie ist ein gro­ßes, sper­ri­ges, we­nig zu­gäng­li­ches Wort. De­mo­kra­tie ist nicht nur Par­la­ment, po­li­ti­sche In­sti­tu­tio­nen und Pro­zes­se. De­mo­kra­tie ist die Mit­ge­stal­tung und Mit­be­stim­mung aller.

Ma­ja: Es ist ein schwer greif­ba­rer Be­griff. Er be­deu­tet für mich theo­re­tisch die Mög­lich­keit der Teil­nah­me von al­len für al­le. Prak­tisch sieht das aber an­ders aus. Kon­kret feh­len Zu­gän­ge zum Ar­beits­markt, Wohn­raum, Ge­sund­heits­ver­sor­gung. Und das nicht zu­letzt auf­grund von Diskriminierung.

In wel­cher Ver­fas­sung ist der De­mo­kra­tie­be­griff aktuell?

Han­nah: Man müss­te den Be­griff ei­gent­lich po­si­tiv neu be­set­zen. Ge­ra­de im Hin­ter­grund der letz­ten Jah­re und Mo­na­te wur­de der Be­griff „De­mo­kra­tie“ im­mer in ei­nem frag­wür­di­gen Kon­text ge­nutzt und ver­ein­nahmt – ins­be­son­de­re von der AfD und auf den Hy­gie­ne­de­mos. Da­her ist es für uns auch schwer, den De­mo­kra­tie-Be­griff ganz un­be­fan­gen zu benutzen.

De­mo­kra­tie ist ein grund­le­gen­des, rich­ti­ges Kon­zept und ein wich­ti­ger Wert, mit dem ich mich iden­ti­fi­zie­re. Im Mo­ment hat es der De­mo­kra­tie-Be­griff aber nicht so leicht. Dar­über hin­aus gibt es ei­ne im­mer grö­ßer wer­den­de Kluft zwi­schen Zi­vil­ge­sell­schaft und den Politiker:innen – zu­min­dest wird es so wahr­ge­nom­men. Das ist na­tür­lich problematisch.

An diesen Beispielen merke ich, die Demokratie entwickelt sich auch weiter

Wo gab es in den letz­ten 10 Jah­ren Fort­schrit­te in Be­zug auf die Demokratie?

Han­nah: Ich ha­be das Ge­fühl, die Men­schen sind ak­tu­ell so po­li­tisch wie seit Jah­ren nicht. Im­mer mehr Men­schen ge­hen auf die Stra­ße und sa­gen ih­re Mei­nung. So wer­den auch De­bat­ten, die vor ei­ni­gen Jah­ren nur in­ner­halb von mar­gi­na­li­sier­ten Com­mu­nities oder in klei­ne­ren Grup­pen dis­ku­tiert wur­den, nun auch öf­fent­lich ge­führt. Auch me­tho­disch se­he ich In­no­va­tio­nen. In Bar­ce­lo­na wird bei­spiels­wei­se mit Nach­bar­schafts­rä­ten experimentiert.

Es gibt im­mer mehr di­gi­ta­le und ana­lo­ge Platt­for­men und For­ma­ten, die ein Up­date der re­prä­sen­ta­ti­ven De­mo­kra­tie sind. Die­se er­mög­li­chen ei­ne Be­tei­li­gung von al­len. Au­ßer­dem fin­det man im­mer mehr Bürger:innenräte. Das sind oft­mals ge­los­te und da­mit sehr di­ver­se Grup­pen von Bürger:innen, die über be­stimm­te The­men dis­ku­tie­ren, die sie selbst be­tref­fen. In Ir­land wur­de durch solch ein Bürger:innen-Rat Ab­trei­bun­gen le­ga­li­siert. An die­sen Bei­spie­len mer­ke ich, die De­mo­kra­tie ent­wi­ckelt sich auch weiter.

Ma­ja: Ein wei­te­ren Fort­schritt se­he ich in der Ein­füh­rung der Ehe für al­le im Jahr 2017 und dem LADG. Mit dem Lan­des-An­ti­dis­kri­mi­nie­rungs­ge­setz hat Ber­lin ei­ne Mög­lich­keit ge­schaf­fen, sich ge­gen in­sti­tu­tio­nel­le Dis­kri­mi­nie­rung zu weh­ren. Zu ei­ner funk­tio­nie­ren­den De­mo­kra­tie ge­hört auch, dass Men­schen ih­re Rech­te ein­kla­gen kön­nen – be­son­ders dann, wenn staat­li­che In­sti­tu­tio­nen sie ih­nen verwehren.

Im Zu­ge des De­mo­kra­tietages am 15. Sep­tem­ber ist oft die Re­de von ei­nem „de­mo­kra­ti­schen Ber­lin“. Wie de­mo­kra­tisch kann Ber­lin ei­gent­lich sein?

Migrationsrat

Ma­ja: Wir for­dern, dass al­le Men­schen, die in Ber­lin le­ben, die Mög­lich­keit be­kom­men, Ber­lin mit­zu­ge­stal­ten. Da­zu ge­hört un­ter an­de­rem Bil­dung, Ar­beit und die Ge­stal­tung so­wie Zu­gäng­lich­keit öf­fent­li­cher Räu­me. Da gibt es im­mer noch vie­le Barrieren.

Han­nah: Mei­ne Vi­si­on von ei­nem de­mo­kra­ti­schen Ber­lin ist ein Ber­lin, in dem al­le al­le Rech­te ha­ben – un­ab­hän­gig da­von, ob Men­schen ei­nen deut­schen Pass ha­ben oder kei­nen Pass haben.

Wer soll und kann am De­mo­kra­tietag teilnehmen?

Ma­ja: Al­le sol­len die Mög­lich­keit be­kom­men, mit­zu­wir­ken. Sei es in Form von Ver­an­stal­tun­gen oder durch Kam­pa­gnen. Un­se­re ei­ge­nen Kam­pa­gnen-Vi­de­os ha­ben wir in 14 ver­schie­de­ne Spra­chen über­set­zen las­sen, um den De­mo­kra­tietag auch sprach­lich mög­lichst vie­len Men­schen zu­gäng­lich zu ma­chen. Wir ha­ben Schu­len di­rekt an­ge­spro­chen, Migrant:innen-Selbstorganisationen an­ge­schrie­ben und ei­nen of­fe­nen Auf­ruf ge­macht. Idea­ler­wei­se kom­men Berliner:innen in den Aus­tausch, die sonst eher we­ni­ger mit­ein­an­der zu tun haben.

Zivilgesellschaft sollte durch die Politik noch mehr die Möglichkeit bekommen, mitzugestalten und eingebunden zu werden

De­mo­kra­tie ist ein gro­ßes Wort. Je­der kann den De­mo­kra­tie-Be­griff mit prä­gen. Da­zu gibt es am De­mor­kra­tietag viel­fäl­ti­ge Mög­lich­kei­ten. Ei­ne Fra­ge bleibt: Wer steht ak­tu­ell in der Ver­ant­wor­tung, die De­mo­kra­tie zu stär­ken: Die Po­li­tik oder die Zivilgesellschaft?

Ma­ja: Wir als Zi­vil­ge­sell­schaft soll­ten durch die Po­li­tik noch mehr die Mög­lich­keit be­kom­men, mit­zu­ge­stal­ten und ein­ge­bun­den zu wer­den. Ba­sis da­für ist es aber auch, dass un­se­re Ex­per­ti­sen an­er­kannt wer­den. Da­zu be­nö­tigt es, , dass die Ge­sell­schaft stär­ker zu­sam­men­ar­bei­tet und nicht nur ein­zel­ne Grup­pen für sich selbst arbeiten.

Han­nah: Ich se­he die Po­li­tik in der Ver­ant­wor­tung Struk­tu­ren zu schaf­fen, da­mit die Zi­vil­ge­sell­schaft die De­mo­kra­tie mit­ge­stal­ten kann. Letz­tes Jahr war Fri­days for fu­ture sehr stark und laut. Die Po­li­tik hat viel­leicht auch hin­ge­hört – zu­min­dest sym­bo­lisch. Aber den­noch ist we­nig passiert.

Die­ses Jahr ha­be ich den Ein­druck, dass die In­ter­es­sen der Wirt­schaft wie­der viel stär­ker im Fo­kus ste­hen. Die For­de­run­gen und Stim­men der jün­ge­ren Men­schen blei­ben da­ge­gen un­ge­hört. Da se­he ich die Po­li­tik in der Ver­ant­wor­tung, dass sie auch die Im­pul­se der Zi­vil­ge­sell­schaft auf­greift und ernst nimmt. Ich er­war­te nicht, dass die Po­li­tik die Welt ret­tet. Aber es braucht die Struk­tu­ren und Räu­me, um zusammenzuarbeiten.

Wel­che Struk­tu­ren und Räu­me sind das?

Han­nah: Es gibt im­mer noch Struk­tu­ren, die Men­schen von de­mo­kra­ti­scher Teil­ha­be aus­schlie­ßen. Es soll­te mehr En­ga­ge­ment ge­ben, um Dis­kri­mi­nie­rung zu be­kämp­fen und auch das Recht zu wäh­len, soll­te je­der be­sit­zen. Es braucht Räu­me und Struk­tu­ren, die die Stim­men der Zi­vil­ge­sell­schaft ernst nimmt, so­dass ei­ne wirk­li­che Zu­sam­men­ar­beit statt­fin­det, mit ech­ten Er­geb­nis­sen und Ver­än­de­run­gen, die am bes­ten bin­dend sind für die Po­li­tik – und eben nicht nur sym­bo­li­sches Zu­hö­ren. Wir als „In­itia­ti­ve Of­fe­ne Ge­sell­schaft“ ar­bei­ten da auch an For­ma­ten, bei de­nen wir re­le­van­ten Ak­teu­re an ei­nen Tisch brin­gen – al­so al­le, die zu ei­nem The­ma et­was zu sa­gen ha­ben. Das sind nicht nur Expert:innen oder Politiker:innen, son­dern auch Betroffene.

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zu­letzt ak­tua­li­siert 15.09.2020