Im Moment hat es der Demokratie-Begriff aber nicht so leicht: Hannah Göppert über die Demokratie – gemeinsam mit Maja Bogojević
Notiert von jor ~ 15. September 2020 ~
Zehn Jahre Berliner Engagementwoche: Die Landesfreiwilligenagentur Berlin hat Antreiber:innen und Beobachter:innen der Berliner Zivilgesellschaft auf ein Wort gebeten – nachgefragt, in dieser Coronazeit. Heute Hannah Göppert, Die Offene Gesellschaft, und Maja Bogojević, Migrationsrat Berlin, im Gespräch mit René Tauschke.
Die Landesfreiwilligenagentur Berlin und das Landesnetzwerk Bürgerengagement Berlin als Veranstalter der Berliner Engagementwoche haben für 2020 ihr Jahresmotto “Lern.Ort.Engagement.” gesetzt. Was bedeutet für Sie das Motto? Was haben Sie aus dem Engagement gelernt oder mitgenommen?
Hannah: Hier kann ich nur aus meinen persönlichen Erfahrungen sprechen – gehe aber davon aus, dass viele Engagierte es ganz ähnlich erleben. Für mich selbst waren Engagement und Aktivismus immer auch ein wertvolles Lernfeld. Nach dem Abitur habe ich gemeinsam mit anderen Personen aus ganz Europa einen Freiwilligendienst in einem selbstorganisierten Kunst- und Kulturzentrum in Schottland gemacht. Dies war für mich ganz buchstäblich ein wahnsinniger Lernort, der mich bis heute prägt.
Ich war immer wieder in verschiedenen Kontexten politisch engagiert – und habe dabei eine Menge von Anderen gelernt. Zum Beispiel über basisdemokratische Prozesse und Organisationsformen, politische Bildung, strategische Kommunikation – aber auch die bestärkende Erfahrung gesammelt, gemeinsam für etwas zu kämpfen. Engagement kann also eine große Ressource sein.
Gleichzeitig finde ich es in dem Zusammenhang wichtig, dass Engagement oft auch mit Hürden verbunden ist. Denn man muss erst einmal wissen, wo man sich engagieren kann, man benötigt die richtigen Kontakte, um darauf aufmerksam zu werden, oder es fehlt an (zeitlichen) Kapazitäten. Um den Lern.Ort.Engagement. möglichst offen und zugänglich zu machen, sollte wir möglichst viele unterschiedliche Anknüpfungspunkte, Zugänge und Engagementmöglichkeiten schaffen.
Am 15. September wird der Berliner Demokratietag gefeiert. Was bedeutet Demokratie für Euch persönlich?
Hannah: Ich finde Demokratie ist ein großes, sperriges, wenig zugängliches Wort. Demokratie ist nicht nur Parlament, politische Institutionen und Prozesse. Demokratie ist die Mitgestaltung und Mitbestimmung aller.
Maja: Es ist ein schwer greifbarer Begriff. Er bedeutet für mich theoretisch die Möglichkeit der Teilnahme von allen für alle. Praktisch sieht das aber anders aus. Konkret fehlen Zugänge zum Arbeitsmarkt, Wohnraum, Gesundheitsversorgung. Und das nicht zuletzt aufgrund von Diskriminierung.
In welcher Verfassung ist der Demokratiebegriff aktuell?
Hannah: Man müsste den Begriff eigentlich positiv neu besetzen. Gerade im Hintergrund der letzten Jahre und Monate wurde der Begriff „Demokratie“ immer in einem fragwürdigen Kontext genutzt und vereinnahmt – insbesondere von der AfD und auf den Hygienedemos. Daher ist es für uns auch schwer, den Demokratie-Begriff ganz unbefangen zu benutzen.
Demokratie ist ein grundlegendes, richtiges Konzept und ein wichtiger Wert, mit dem ich mich identifiziere. Im Moment hat es der Demokratie-Begriff aber nicht so leicht. Darüber hinaus gibt es eine immer größer werdende Kluft zwischen Zivilgesellschaft und den Politiker:innen – zumindest wird es so wahrgenommen. Das ist natürlich problematisch.
An diesen Beispielen merke ich, die Demokratie entwickelt sich auch weiter
Wo gab es in den letzten 10 Jahren Fortschritte in Bezug auf die Demokratie?
Hannah: Ich habe das Gefühl, die Menschen sind aktuell so politisch wie seit Jahren nicht. Immer mehr Menschen gehen auf die Straße und sagen ihre Meinung. So werden auch Debatten, die vor einigen Jahren nur innerhalb von marginalisierten Communities oder in kleineren Gruppen diskutiert wurden, nun auch öffentlich geführt. Auch methodisch sehe ich Innovationen. In Barcelona wird beispielsweise mit Nachbarschaftsräten experimentiert.
Es gibt immer mehr digitale und analoge Plattformen und Formaten, die ein Update der repräsentativen Demokratie sind. Diese ermöglichen eine Beteiligung von allen. Außerdem findet man immer mehr Bürger:innenräte. Das sind oftmals geloste und damit sehr diverse Gruppen von Bürger:innen, die über bestimmte Themen diskutieren, die sie selbst betreffen. In Irland wurde durch solch ein Bürger:innen-Rat Abtreibungen legalisiert. An diesen Beispielen merke ich, die Demokratie entwickelt sich auch weiter.
Maja: Ein weiteren Fortschritt sehe ich in der Einführung der Ehe für alle im Jahr 2017 und dem LADG. Mit dem Landes-Antidiskriminierungsgesetz hat Berlin eine Möglichkeit geschaffen, sich gegen institutionelle Diskriminierung zu wehren. Zu einer funktionierenden Demokratie gehört auch, dass Menschen ihre Rechte einklagen können – besonders dann, wenn staatliche Institutionen sie ihnen verwehren.
Im Zuge des Demokratietages am 15. September ist oft die Rede von einem „demokratischen Berlin“. Wie demokratisch kann Berlin eigentlich sein?
Maja: Wir fordern, dass alle Menschen, die in Berlin leben, die Möglichkeit bekommen, Berlin mitzugestalten. Dazu gehört unter anderem Bildung, Arbeit und die Gestaltung sowie Zugänglichkeit öffentlicher Räume. Da gibt es immer noch viele Barrieren.
Hannah: Meine Vision von einem demokratischen Berlin ist ein Berlin, in dem alle alle Rechte haben – unabhängig davon, ob Menschen einen deutschen Pass haben oder keinen Pass haben.
Wer soll und kann am Demokratietag teilnehmen?
Maja: Alle sollen die Möglichkeit bekommen, mitzuwirken. Sei es in Form von Veranstaltungen oder durch Kampagnen. Unsere eigenen Kampagnen-Videos haben wir in 14 verschiedene Sprachen übersetzen lassen, um den Demokratietag auch sprachlich möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Wir haben Schulen direkt angesprochen, Migrant:innen-Selbstorganisationen angeschrieben und einen offenen Aufruf gemacht. Idealerweise kommen Berliner:innen in den Austausch, die sonst eher weniger miteinander zu tun haben.
Zivilgesellschaft sollte durch die Politik noch mehr die Möglichkeit bekommen, mitzugestalten und eingebunden zu werden
Demokratie ist ein großes Wort. Jeder kann den Demokratie-Begriff mit prägen. Dazu gibt es am Demorkratietag vielfältige Möglichkeiten. Eine Frage bleibt: Wer steht aktuell in der Verantwortung, die Demokratie zu stärken: Die Politik oder die Zivilgesellschaft?
Maja: Wir als Zivilgesellschaft sollten durch die Politik noch mehr die Möglichkeit bekommen, mitzugestalten und eingebunden zu werden. Basis dafür ist es aber auch, dass unsere Expertisen anerkannt werden. Dazu benötigt es, , dass die Gesellschaft stärker zusammenarbeitet und nicht nur einzelne Gruppen für sich selbst arbeiten.
Hannah: Ich sehe die Politik in der Verantwortung Strukturen zu schaffen, damit die Zivilgesellschaft die Demokratie mitgestalten kann. Letztes Jahr war Fridays for future sehr stark und laut. Die Politik hat vielleicht auch hingehört – zumindest symbolisch. Aber dennoch ist wenig passiert.
Dieses Jahr habe ich den Eindruck, dass die Interessen der Wirtschaft wieder viel stärker im Fokus stehen. Die Forderungen und Stimmen der jüngeren Menschen bleiben dagegen ungehört. Da sehe ich die Politik in der Verantwortung, dass sie auch die Impulse der Zivilgesellschaft aufgreift und ernst nimmt. Ich erwarte nicht, dass die Politik die Welt rettet. Aber es braucht die Strukturen und Räume, um zusammenzuarbeiten.
Welche Strukturen und Räume sind das?
Hannah: Es gibt immer noch Strukturen, die Menschen von demokratischer Teilhabe ausschließen. Es sollte mehr Engagement geben, um Diskriminierung zu bekämpfen und auch das Recht zu wählen, sollte jeder besitzen. Es braucht Räume und Strukturen, die die Stimmen der Zivilgesellschaft ernst nimmt, sodass eine wirkliche Zusammenarbeit stattfindet, mit echten Ergebnissen und Veränderungen, die am besten bindend sind für die Politik – und eben nicht nur symbolisches Zuhören. Wir als „Initiative Offene Gesellschaft“ arbeiten da auch an Formaten, bei denen wir relevanten Akteure an einen Tisch bringen – also alle, die zu einem Thema etwas zu sagen haben. Das sind nicht nur Expert:innen oder Politiker:innen, sondern auch Betroffene.
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zuletzt aktualisiert 15.09.2020