Angebote und Einrichtungen müssen inklusiv sein und dürfen niemanden ausschließen: Elke Breitenbach über Teilhabe in Berlin

Engagiert in der Coronazeit

Zehn Jah­re Ber­li­ner En­ga­ge­ment­wo­che: Die Lan­des­frei­wil­li­genagen­tur Ber­lin hat Antrei­ber:innen und Beobachter:innen der Ber­li­ner Zi­vil­ge­sell­schaft auf ein Wort ge­be­ten – nach­ge­fragt, in die­ser Co­ro­na­zeit. Heu­te El­ke Brei­ten­bach, Se­na­to­rin für In­te­gra­ti­on, Ar­beit und So­zia­les, im Ge­spräch mit Re­né Tausch­ke.

Un­ser dies­jäh­ri­ges Mot­to lau­tet „Lern.Ort.Engagement“. Was ver­bin­den Sie mit dem Mot­to? Was ha­ben Sie per­sön­lich durch das En­ga­ge­ment gelernt?

Elke Breitenbach

Sich zu en­ga­gie­ren, kann man ler­nen. Oft sind schon El­tern Vor­bil­der oder Groß­el­tern, manch­mal auch Freun­de. Na­tür­lich spielt auch die Schu­le ei­ne gro­ße Rol­le da­bei, wenn sie Kin­dern und Ju­gend­li­chen das ge­sell­schaft­li­che En­ga­ge­ment qua­si in den Stun­den­plan schreibt. Um das zu för­dern, ver­ge­ben wir bei­spiels­wei­se auch die Schüler-FreiwilligenPässe.

Auf je­den Fall be­nö­tigt En­ga­ge­ment aber kon­kre­te Or­te und Ge­le­gen­hei­ten zum En­ga­ge­ment und es braucht ent­spre­chen­de In­fra­struk­tu­ren. Die­se müs­sen für al­le zu­gäng­lich sein, es be­nö­tigt Ansprechpartner:innen, die ver­mit­teln, be­ra­ten und an­lei­ten. Ein­drück­li­che und ein­la­den­de Räu­me für so­zia­les En­ga­ge­ment sind un­se­re Stadt­teil­zen­tren, die es in Ber­lin in je­dem Be­zirk gibt. Die­se Or­te müs­sen aber auch für das un­ge­bun­de­ne En­ga­ge­ment aus­rei­chend zur Ver­fü­gung ste­hen – das ist ei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung in ei­ner im­mer en­ger und teu­rer wer­den­den Stadt!

Was mich be­trifft: Ich ha­be durch das En­ga­ge­ment ge­lernt, dass ich nicht nur an­de­re er­folg­reich un­ter­stüt­zen kann, son­dern dass es auch für mich ei­ne wirk­li­che Be­rei­che­rung ist.

Die Engagementwoche ist vor allem ein Schaufenster für das vorhandene Engagement

In den zehn Jah­ren der En­ga­ge­ment­wo­che ha­ben wir über 3.500 Mal auf frei­wil­li­ges und bür­ger­schaft­li­chen En­ga­ge­ment in Ber­lin hin­ge­wie­sen, da­bei wa­ren 55.000 Ak­ti­ve da­bei für die Stadt en­ga­giert und hilf­reich. Wie hat die En­ga­ge­ment­wo­che Ber­lin ge­prägt oder verändert?

Die En­ga­ge­ment­wo­che ist vor al­lem ein Schau­fens­ter für das vor­han­de­ne En­ga­ge­ment. Gleich­zei­tig macht sie auch Wer­bung für en­ga­gier­tes Han­deln. Das ge­lingt zum Bei­spiel mit öf­fent­lich­keits­wirk­sa­men Ak­tio­nen, die Lust aufs En­ga­ge­ment ma­chen sol­len. Vie­le Ber­li­ne­rin­nen und Ber­li­ner, die sich in ih­rem Haus oder in ih­rem Kiez en­ga­gie­ren, so­zu­sa­gen im Klei­nen, ha­ben da­bei das Ge­fühl, Teil ei­ner gro­ßen Be­we­gung zu sein. Das mo­ti­viert Men­schen, ganz gleich in wel­chem Al­ter sie sind.

Wie hat sich in den letz­ten 10 Jah­ren die En­ga­ge­ment-Land­schaft, Ih­rer Mei­nung nach, entwickelt?

Ich bin der Mei­nung, dass so­zia­les, bür­ger­schaft­li­ches En­ga­ge­ment auch im­mer ein Spie­gel der ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lung ist. Das kön­nen wir gut be­ob­ach­ten. Wir se­hen, dass sich Men­schen nicht mehr so lang­fris­tig an ei­ne Or­ga­ni­sa­ti­on oder ei­nen Ort bin­den – un­ter an­de­rem we­gen be­ruf­li­cher Er­for­der­nis­se. Das über­trägt sich auch auf das En­ga­ge­ment: Es wird we­ni­ger lang­fris­tig und Ver­ei­ne ha­ben Pro­ble­me, Nach­fol­ger für Vor­stands­pos­ten zu fin­den. Es gibt da­für mehr spon­ta­nes En­ga­ge­ment, Kurz­zeit­ein­sät­ze und un­ge­bun­de­nes En­ga­ge­ment, al­so oh­ne Vereinsanbindung.

Das Engagement der Zivilgesellschaft in Berlin ist immer wieder beispielhaft, nicht nur in den letzten Monaten

Er­freu­lich ist auf je­den Fall, dass das En­ga­ge­ment ins­ge­samt sta­bil ge­blie­ben ist. Es en­ga­gie­ren sich heu­te so­gar mehr Men­schen als noch vor zehn Jah­ren. Ge­ra­de in jüngs­ter Ver­gan­gen­heit er­le­ben wir ei­ne star­ke Zu­nah­me des po­li­ti­schen En­ga­ge­ments von Ju­gend­li­chen, zum Bei­spiel mit Fri­days for Future.

Las­sen Sie mich an die­ser Stel­le noch er­gän­zen: „Eh­ren­amt braucht Haupt­amt“ – da­von bin ich über­zeugt. Wir hat­ten be­reits vor Be­ginn die­ser Le­gis­la­tur­pe­ri­ode in Ber­lin ei­ne In­fra­struk­tur zur För­de­rung und Un­ter­stüt­zung des En­ga­ge­ments, um die uns fast al­le an­de­ren Bun­des­län­der be­nei­det ha­ben. Den­noch ha­ben wir als Se­nat da noch kräf­tig drauf­ge­sat­telt: Wir ha­ben mit den be­zirk­li­chen Frei­wil­li­genagen­tu­ren ei­ne bun­des­weit ein­ma­li­ge flä­chen­de­cken­de Struk­tur der En­ga­ge­ment-För­de­rung geschaffen!

Das er­folg­rei­che Kon­zept der Stadt­teil­zen­tren konn­te deut­lich aus­ge­baut wer­den und – auch das ist bun­des­weit ein­ma­lig – wir ha­ben die Be­trei­ber der Un­ter­künf­te für Ge­flüch­te­te in die La­ge ver­setzt, als Teil der Re­gel­ver­sor­gung Frei­wil­li­gen­ko­or­di­na­ti­on an­zu­bie­ten. Er­gän­zend da­zu gibt es Qua­li­fi­zie­rungs­an­ge­bo­te für Frei­wil­li­gen­ko­or­di­na­ti­on durch das Pro­jekt Be­ra­tungs­fo­rum En­ga­ge­ment. Zu­dem wur­de die jähr­li­che Fach­ta­gung für Frei­wil­li­gen­ma­nage­ment er­folg­reich „wie­der­be­lebt“. Ak­tu­ell er­ar­bei­tet das Land Ber­lin ei­ne neue Eh­ren­amts­stra­te­gie. Das al­les kos­tet viel Geld. Doch es ist sehr gut an­ge­leg­tes Geld.

Wel­che Be­deu­tung hat das En­ga­ge­ment für Berlin?

Das En­ga­ge­ment der Zi­vil­ge­sell­schaft in Ber­lin ist im­mer wie­der bei­spiel­haft, nicht nur in den letz­ten Mo­na­ten. Wann im­mer die­se Stadt vor ei­ner gro­ßen und häu­fig auch un­er­war­te­ten ge­sell­schaft­li­chen Her­aus­for­de­rung ge­stan­den hat – sei es in den Jah­ren 2015/​2016, als vie­le Ge­flüch­te­te zu uns ka­men, oder sei es bei der Un­ter­stüt­zung ob­dach­lo­ser Men­schen oder jetzt in der Corona-Pandemie.

Sehr oft sind es so­gar zu­erst die nicht or­ga­ni­sier­ten Frei­wil­li­gen, die spon­tan und in Ei­gen­re­gie tä­tig wer­den, um ent­stan­de­ne Pro­ble­me tat­kräf­tig zu lö­sen. Manch­mal wer­den Po­li­tik und Ver­wal­tung erst durch die­ses En­ga­ge­ment auf ent­ste­hen­de Pro­ble­me so rich­tig aufmerksam.

Die En­ga­gier­ten wir­ken hier wie Seis­mo­gra­phen, die auf Miss­stän­de hin­wei­sen! Das ge­schieht nicht nur durch gro­ße und öf­fent­lich­keits­wirk­sa­me Ak­tio­nen, son­dern oft auch sehr de­zen­tral und im Klei­nen, re­gio­nal in der Nach­bar­schaft – oh­ne gro­ße Lo­gis­tik und Struk­tu­ren. Es ist den­noch sehr ziel­ge­rich­tet und wirk­sam. Als ein Bei­spiel nen­ne ich die Ein­rich­tung der Ga­ben-Zäu­ne zur Ver­sor­gung ob­dach­lo­ser Men­schen, die in Fol­ge des Co­ro­na-Lock­downs plötz­lich von ge­wohn­ten Ver­sor­gungs­struk­tu­ren ab­ge­schnit­ten waren.

Verlässliche Strukturen und Unterstützung sind unabdingbar

Da­mit dies lang­fris­tig ge­sche­hen kann, braucht die Zi­vil­ge­sell­schaft aber auch ver­läss­li­che Struk­tu­ren und Un­ter­stüt­zung. Die­se Un­ter­stüt­zung reicht von der Be­reit­stel­lung von Räu­men, über Qua­li­fi­zie­rungs­an­ge­bo­te bis hin zu pro­fes­sio­nel­len An­sprech­part­ne­rin­nen und –part­nern in den Frei­wil­li­genagen­tu­ren und Stadt­teil­zen­tren für En­ga­gier­te und sol­che, die es wer­den wollen.

Ber­lin ist da in ei­ner ver­gleichs­wei­se gu­ten Si­tua­ti­on: Das flä­chen­de­cken­de Netz pro­fes­sio­nel­ler En­ga­ge­ment-för­dern­der Ein­rich­tun­gen un­ter­stützt das spon­ta­ne En­ga­ge­ment. Im Jahr 2015 wa­ren es die Stadt­teil­zen­tren, wel­che die Will­kom­mens­kul­tur rund um neu er­rich­te­te Un­ter­künf­te für Ge­flüch­te­te maß­geb­lich mit­or­ga­ni­siert ha­ben. So war es auch im März die­ses Jah­res, als in­ner­halb we­ni­ger Ta­ge in je­dem Ber­li­ner Be­zirk ei­ne Ko­or­di­nie­rungs­stel­le ein­ge­rich­tet wur­de – so­wohl für Men­schen, die Co­ro­na-be­dingt Un­ter­stüt­zung be­nö­tig­ten (zum Bei­spiel beim Ein­kauf), als auch für eh­ren­amt­li­che Hel­fe­rin­nen und Helfer.

Erfreulicherweise ist es uns gelungen, die Projekte auch über die schwierige Coronazeit hinweg zu erhalten.

In Fol­ge von Co­ro­na muss­ten vie­le Ver­ei­ne und Ver­bän­de krea­tiv und in kür­zes­ter Zeit auf die ak­tu­el­len Ge­ge­ben­hei­ten re­agie­ren. In vie­len Fäl­len gab es kei­ne Al­ter­na­ti­ve und die re­gu­lä­re Ar­beit muss­te ein­ge­stellt wer­den. In an­de­ren Fäl­len wur­den in­no­va­ti­ve For­ma­te ent­wi­ckelt. Wie kann das En­ga­ge­ment ak­tu­ell nach­hal­tig un­ter­stützt werden?

Das ge­schieht durch die zu­vor schon be­schrie­be­ne, En­ga­ge­ment för­dern­de In­fra­struk­tur mit ih­ren Frei­wil­li­genagen­tu­ren und Stadt­teil­zen­tren bei­spiels­wei­se. In den Pro­jek­ten, für die wir als Se­nats­ver­wal­tung für In­te­gra­ti­on, Ar­beit und So­zia­les di­rekt ver­ant­wort­lich sind, wur­den üb­ri­gens sehr we­ni­ge An­ge­bo­te kom­plett ein­ge­stellt. Viel mehr ge­lang es sehr schnell, die An­ge­bo­te auf te­le­fo­ni­sche oder di­gi­ta­le For­ma­te um­zu­stel­len. Die Lan­des­frei­wil­li­genagen­tur ist mit der Frei­wil­li­gen­bör­se und den Run­den Ti­schen ein gu­tes Bei­spiel da­für. So ähn­lich hat es auch bei Be­ra­tungs­an­ge­bo­ten funktioniert.

An­de­re An­ge­bo­te, da nen­ne ich die Mo­bi­li­täts­hil­fe­diens­te und Be­geg­nungs­an­ge­bo­te, konn­ten mitt­ler­wei­le – we­nigs­tens teil­wei­se – wie­der öff­nen. Er­freu­li­cher­wei­se ist es uns ge­lun­gen, die Pro­jek­te auch über die­se schwie­ri­ge Zeit hin­weg zu erhalten.

Vie­le eh­ren­amt­lich En­ga­gier­te wün­schen sich mehr Sicht­bar­keit und Wert­schät­zung für das En­ga­ge­ment. Mit der En­ga­ge­ment­wo­che leis­ten wir und Sie als För­de­rin da­für ei­nen Bei­trag. Mit wel­chen Struk­tu­ren und For­ma­ten kann das En­ga­ge­ment ganz­jäh­rig die Sicht­bar­keit er­fah­ren, die ge­wünscht wird?

Wir ha­ben in den ver­gan­ge­nen Jah­ren und bis heu­te ne­ben der För­de­rung des En­ga­ge­ments auch ei­ne Kul­tur der An­er­ken­nung ent­wi­ckelt. Da gibt es un­ter an­de­rem die Eh­ren­na­del für be­son­de­res so­zia­les En­ga­ge­ment, die wir fei­er­lich ver­lei­hen ge­nau­so wie die Frei­wil­li­gen­Päs­se und Schü­ler-Frei­wil­li­gen­Päs­se. Es ist uns sehr wich­tig, An­er­ken­nung und Wert­schät­zung den Frei­wil­li­gen ge­gen­über zum Aus­druck zu brin­gen. Da ist si­cher auch noch Luft nach oben! Ich bin ge­spannt, wel­che neu­en Ideen und An­sät­ze es noch ge­ben wird.

Räume für das Enga­ge­ment werden weniger und teurer, insbesondere für ungebundenes, spontanes Engage­ment: definitiv eine große Herausforderung

Wo se­hen Sie die Her­aus­for­de­run­gen und Chan­cen für das En­ga­ge­ment in Ber­lin in den nächs­ten Jahren?

Ich hat­te be­reits er­wähnt, dass Räu­me für das En­ga­ge­ment we­ni­ger und teu­rer wer­den, ins­be­son­de­re für un­ge­bun­de­nes, spon­ta­nes En­ga­ge­ment. Das ist de­fi­ni­tiv ei­ne gro­ße Her­aus­for­de­rung. Mit Sor­ge be­trach­te ich, dass sich ein En­ga­ge­ment ge­gen statt für formt, al­so, ge­gen De­mo­kra­tie, ge­gen ei­ne li­be­ra­le Ge­sell­schaft und ge­gen Weltoffenheit.

Er­mu­tigt bin ich da­ge­gen, wenn ich die Chan­cen se­he: Auf die Zi­vil­ge­sell­schaft in Ber­lin ist Ver­lass. Das macht Hoff­nung. Vie­le jün­ge­re Men­schen en­ga­gie­ren sich und es gibt noch vie­le bis­her un­ge­nutz­te Po­ten­zia­le, zum Bei­spiel vie­le Ber­li­ne­rin­nen und Ber­li­ner mit Ein­wan­de­rungs­ge­schich­te. Wenn es uns ge­lingt, auch En­ga­ge­ment-fer­ne Men­schen und Grup­pen bes­ser ein­zu­be­zie­hen und die be­stehen­den Ein­rich­tun­gen und An­ge­bo­te im um­fas­sen­den Sin­ne in­klu­siv zu öff­nen, liegt dar­in für ei­ne di­ver­se, bun­te und welt­of­fe­ne Stadt wie Ber­lin ei­ne gro­ße Chance!

Was sind ent­spre­chen­de Ant­wor­ten oder Lö­sun­gen auf die­se Herausforderungen?

Es muss uns auch künf­tig ge­lin­gen, die ent­spre­chen­de In­fra­struk­tur für das En­ga­ge­ment vor­zu­hal­ten, sie wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und ih­re Fi­nan­zie­rung zu si­chern. Das heißt auch, in bis­lang un­ter­ver­sorg­ten Re­gio­nen, neue Stand­or­te zu er­öff­nen. Wir müs­sen auch über Mehr­fach­nut­zun­gen von Ein­rich­tun­gen, zum Bei­spiel Schu­len, nach­den­ken. Vor al­lem ist es un­ab­ding­bar, Bar­rie­ren ab­zu­bau­en. Da­mit mei­ne ich bau­li­che Bar­rie­re­frei­heit ge­nau­so wie sprach­li­che Bar­rie­re­frei­heit. An­ge­bo­te und Ein­rich­tun­gen müs­sen in­klu­siv sein und dür­fen nie­man­den von der Teil­ha­be ausschließen.

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zu­letzt ak­tua­li­siert 14.09.2020